Interhelpo – tschechoslowakische Spuren in Bischkek
Nachdem Lenin 1922 die Proletarier aller Länder dazu aufrief, beim Aufbau der Sowjetunion zu helfen, folgte eine Gruppe von Slowaken, Tschechen, Ungarn und Deutschen und machte sich auf den langen Weg ins Tschui-Tal. Unter dem Namen Interhelpo gründete sich die Kooperative um Rudolf Mareček (1888–1970), der im Laufe seines Lebens unter anderem als Journalist, Künstler, Schreiner, Mechaniker, Bergsteiger, Diplomat und Funktionär wirkte. Er kannte sich im Gebiet Turkestans aus, hatte bereits 1918 die erste Landsiedlung Neue Ära in Kirgisien gegründet und war 1921 in die Tschechoslowakei zurückgekommen. Seine Begeisterung für Kirgistan, die Sowjetisierung und die kommunistische Ostsiedlung verbreitete er mit Dias aus dem Issyk-Kul-Gebiet: Strände, Wälder und Berge. In Kombination mit seinem Talent fürs Geschichtenerzählen schuf er die Begeisterung für den Aufbau der Kooperative Interhelpo und wurde deren erster Vorsitzender.
Das erste Treffen fand im slowakischen Žilina am 1. Mai 1923 statt. Die Anforderungen waren hoch: Die Genossen mussten eine hohe berufliche Qualifikation nachweisen, eine Einlage von 5000 Kronen (damals etwa der Wert eines Einfamilienhauses) aufbringen und Parteimitglieder und Atheisten sein. Der Slogan »Proletarier aller Länder, vereinigt euch!« war ihnen nicht nur ein leerer Spruch, sondern eine Anleitung zum Handeln. Sie glaubten, dass der Kommunismus nicht mehr fern sei und durch gemeinsame Anstrengung zu erreichen. Die Zeitung Oktoberlicht hatte von ganz neuen Möglichkeiten berichtet: An einem Ort, frei von jeglichem kapitalistischem Übel und Hindernissen für gemeinschaftliche Arbeit, könnte man schnell eine neue gerechte und schöne Welt bauen. 1924 wurde eine Vereinbarung zwischen der Tschechoslowakei und der sowjetischen Regierung getroffen, dass die Genossenschaft Interhelpo in Kirgistan neue Produktionstechnologien umsetzen sollte. Am 29. März 1925 wanderten die ersten 303 Arbeiter aus Žilina aus, viele von ihnen mit Familie.
Mareček war als Agitator so erfolgreich, dass die tschechischen Behörden ihn »befragten« und schließlich nicht mit ausreisen ließen. So kam der Zug ohne ihren Vorsitzenden schließlich am 24. April 1925 in Pischpek an, wo es damals nur einen Bahnsteig in der kahlen Steppe gab. Der April 1925 war ungewöhnlich kalt, es lag Schnee, und niemand half den Kommunarden, ans südliche Ufer des Issyk-Kul zu kommen, dessen Bilder sie im Kopf hatten. Man kann sich den Schock über die Diskrepanz zwischen Verheißung und Wirklichkeit vorstellen. Manche kehrten sofort wieder um. Aus Enttäuschung über diese Situation wurde Mareček bei der ersten Versammlung aus der Genossenschaft ausgeschlossen.
Als erste Unterkunft dienten ehemalige Typhus-Baracken in der Nähe des Bahnhofs. Die Familien lebten nur durch Vorhänge getrennt. In den ersten Monaten in Kirgistan starben viele Kleinkinder.
Die Sowjetische Regierung Kirgistans wies den Kommunarden 43 Hektar Steppenland im Westen von Pischpek zu, wo sie in der ersten Zeit in einfachen Erdhütten hausten.
Nachdem sie den ersten Schock überwunden hatten, gründeten die Siedler in unglaublich kurzer Zeit eine Ziegelei und eine Holzwerkstatt und bauten Wohnhäuser, Werkstätten, ein Krankenhaus und eine Schule. Nach und nach organisierten sie eine Reihe von erfolgreichen, profitablen Unternehmen: ein Dieselkraftwerk, eine Mühle und Schleiferei, Bauabteilung, Schuhmacherei und Schneiderei. Die Schwierigkeiten, die sie zu bewältigen hatten, waren nicht alltäglich. Es gab nicht genügend Rohstoffe für die Weberei, keine Baugerüste; es mangelte sogar an den nötigsten Lebensmitteln. Das zwang die Genossenschafter, Gemüse anzubauen und Kühe zu halten, um ihre Familien zu ernähren. Obwohl sie erfolgreich eine Bewässerungslandwirtschaft aufbauten, geriet die Genossenschaft in finanzielle Schwierigkeiten und musste Kredite aufnehmen, unter anderem von der tschechoslowakischen Regierung. Interhelpo ging durch mehrere Krisen, mehrmals forderten Aussteiger ihre Anteile zurück, die Genossenschaft blieb aber standhaft. Auf der anderen Seite nahm man immer wieder neue Mitglieder auf, zwischen 1925 und 1932 kamen 1317 Männer mit ihren Familien. Sie brachten Geräte und industrielle Ausrüstung mit, die sie aus eigenen Mitteln gekauft hatten. Die Einwanderer machten schließlich einen großen Teil der Bevölkerung der jungen Stadt Frunse aus. Fast von Anfang an wurden aber auch Einheimische aufgenommen – obwohl heute unklar ist, wie sie sich verständigt haben. Aber die Kommunarden nahmen ihre Aufgabe ernst, in Kirgistan eine Arbeiterklasse aufzubauen. So wurden auch Außenstehende zu Traktoristen, Mechanikern und Schlossern ausgebildet.
Am 1. Mai 1927 eröffnete eine Tuchfabrik mit 725 Spindeln und 18 Webmaschinen. Auch in der Lebensmittelverarbeitung, der Lagerhaltung und schließlich im Bergbau waren sie aktiv. Der Bau der Zuckerfabrik Kant, des Fleischkombinats, des Tschui-Kanalsystems und andere Unternehmungen wurden von Interhelpo unterstützt. Im Bereich der heutigen Straßen Interhelpo und Trudowaja (östlich des Osch-Basars) hatten sie ihr eigenes Stadtviertel, das noch weitgehend erhalten ist. Viele der zweigeschossigen Häuser weisen noch ihren ursprünglichen schuppenartigen Verputz auf. Die großzügigen Loggien sind hier allerdings ebenso zugemauert wie im Rest der Stadt, und billige chinesische Isolierfenster und Fassadenverkleidungen aus Alucobond entsprächen auch keinen Denkmalschutzvorgaben.
Das in seiner Anlage kreisförmige »Arbeiterstädtchen« (russ. Rabotschi gorodok) wurde unter Beteiligung von Interhelpo 1928 bis 1932 für Eisenbahnarbeiter erstellt. Das auf jeder Karte Bischkeks auffallende Viertel ist 130 Hektar groß und beruht auf dem verbreiteten städtebaulichen Konzept der Gartenstadt nach Ebenezer Howard, bei der städtischer Komfort mit Landschaftselementen des ländlichen Raums kombiniert und Elendsviertel vermieden werden sollten. Die runde Form ist ein Gegenentwurf zum rechtwinkligen Raster militärischen Ursprungs. Im Zentrum sollten ein Park und öffentliche Gebäude wie Schule, Kirche und Kulturhaus entstehen. Sie war absichtlich auf eine Bevölkerung von 32.000 Einwohnern beschränkt; bei weiterem Bedarf sollten neue Siedlungen aufgebaut werden. Zu Interhelpo gehörten zwar viele begabte Bauhandwerker, aber kein einziger Architekt oder Stadtplaner, und so hat letztendlich die Idee des Entwurfs aus unbekannten Gründen nicht funktioniert.
Die Kulturarbeit hatte für Interhelpo besondere Bedeutung. So wurde schon vor der Abreise aus der Tschechoslowakei eine Musikkapelle und ein Sportlerkader organisiert. Man nahm wissenschaftliche und politische Literatur mit. Schon kurz nach der Ankunft gab es eine Theatergruppe, eine Wandzeitung (Iljitschowka) und einen lebendigen künstlerisch-politischen Diskurs. Alles wurde sorgfältig fotografisch dokumentiert. Mit ihrem Kulturhaus Pariser Commune (heute Dialog) und der Freilichtbühne im Fučík-Park (heute ein Tennisplatz) prägte die Gemeinschaft das kulturelle Leben der Stadt. 1931 als Park für Kultur und Erholung im Rahmen einer Pflanzaktion von 60.000 Bäumen gegründet, wurde er 1955 nach Julius Fučík benannt.
Unterricht und Ausbildung fanden bis zu Stalins Dekret über die Alleinstellung der russischen Sprache 1935 auf Tschechisch statt, obwohl einige Mitglieder die Kunstsprache Ido propagierten, aus der auch der Name Interhelpo (»gegenseitige Hilfe«) stammt. Damals zählte die Gemeinschaft 1.859 Menschen aus 14 Nationalitäten. Bis 1932 machten Tschechen, Slowaken, Ungarn und Deutsche etwa 35 Prozent der Stadtbevölkerung aus. Bereits 1939 waren jedoch 89 Prozent der Genossenschafter Einheimische, wobei die Zahl der Zugezogenen nicht nur relativ, sondern auch in absoluten Zahlen sank.
Ende 1939 wurden die meisten Unternehmen in Staatsbetriebe umgewandelt, und in den Jahren 1939 bis 1941 wurde die Genossenschaft Interhelpo weitgehend enteignet, viele Mitglieder wurden während des Krieges wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit interniert, einige erschossen und manche wurden in die Arbeitsarmee geschickt. Diejenigen, die zur Roten Armee gingen, kämpften im Tschechoslowakischen Korps unter Ludvík Svoboda; vor allem in der Schlacht am Duklapass starben viele von ihnen. Nach dem Krieg kehrten die meisten Überlebenden in die Tschechoslowakei zurück, und heute leben nur vereinzelte Nachkommen der Kommunarden in Bischkek. Mit der Verstaatlichung der letzten Metallfabrik hörte die Genossenschaft 1944 auf zu existieren, ihr Archiv wurde vernichtet.